Auch die Begegnung mit den eigenen inneren Schatten ist wichtig. Marco K. malt uns mit "Geisteskrank" lyrisch ein spannendes Bild davon:

 

Geisteskrank .

Ab welchem Punkt ist man geisteskrank?

Wenn man das Bedürfnis verspürt, sich selbst oder andere zu verletzen?

Wenn man merkt, wie überfordert man von normalen Alltagssituationen ist, wie Einkaufen oder Freunde treffen oder mit Menschen reden?

Wenn es anfängt, einem sinnlos zu erscheinen, morgens aufzustehen, oder man keinen Sinn mehr darin sieht, sich zu rasieren oder sich regelmäßig neue modische Kleidung zu kaufen, um in der breiten Masse, voller Zombies, gleich vor sich hin torkelnden Idioten, nicht aufzufallen?

Wenn man an dem Punkt ist, an dem man sich nicht mehr daran erinnern kann, wie sich Freude anfühlt? Oder Liebe, oder wie sich überhaupt etwas anfühlt, außer diesem monoton gleichmäßig bleibenden Gefühl, welches sich anfühlt wie Fallen, ohne jemals den Boden zu erreichen?

Als hätte sich deine Seele in Nato-Stacheldraht verfangen und würde sich krampfhaft winden bei dem aussichtslosen Versuch, sich zu befreien.

 

Nein

 

Geisteskrank ist man, wenn dieses kleine süße Zimmer in deinem Kopf, das du seit Anbeginn deines Lebens mit dir herum trägst, langsam aber sicher an den liebevoll gestalteten Wänden, mit Bildern von Tieren oder Blumen oder sonst einem Kitsch, anfängt Risse aufzuweisen.

Der Ort, an dem du wusstest, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde, wenn du nur das Richtige tust oder sagst. Der Ort, der für dich immer der friedvollste war, in den du eintauchen konntest, um dich geborgen zu fühlen. Anfangs versuchst du noch nicht zu viel drüber nachzudenken, doch die Risse ziehen sich beharrlich und höhnisch weiter und tiefer durch die Wände. Immer öfter findest du bröckelige Bausubstanz auf den Laken oder dem flauschigen Teppich vor dem Bett. Der blumige Geruch fängt an zu verschwinden und weicht einem fauligen, feuchten Dunst, der nach jedem Atemzug ein Brennen in den Nasenlöchern hinterlässt und sich säureartig immer tiefer in dich hineinfrisst.

Die Sonnenstrahlen dringen immer seltener von außen durch das große Fenster, das du früher tagelang verträumt angeschaut hast und wenn sie doch einmal den Weg finden, wirken sie matt und glanzlos. Trüb, als würden sie aus Staub bestehen. Von den bunten Tapeten ist bald nichts mehr zu erkennen. Sie liegen in matschigen Bahnen oder Klumpen zusammengesackt auf dem Boden und die Risse in den Wänden werden langsam zu Löchern. Manch mal fragst du dich, was hinter ihnen liegt und der Gedanke macht dir Angst. Manchmal glaubst du ein leises Klopfen von der anderen Seite zu hören, manchmal sogar Stimmen. Ein heiseres Flüstern .

Sie locken dich, bitten dich sie hinein zu lassen, sagen dir, dass dieses Zimmer jetzt nicht mehr dein zu Hause ist. Dass du gehen musst. Du hörst wie knochige Finger auf der anderen Seite Steinchen für Steinchen aus den rissen pulen. Manchmal hörst du ein Lachen, das dir das Blut in den Adern gefrieren lässt und dafür sorgt, dass sich deine Nackenhaare aufstellen. Früher war dies dein Zufluchtsort, doch immer mehr erkennst du die Wahrheit:

Du bist hier gefangen.

Es gibt kein Entkommen für dich und selbst wenn, wo solltest du hin? Zu den Schrecken auf die andere Seite?

 

Tagelanges Klopfen von der anderen Seite. Ununterbrochen im gleichen Takt .

 

Tock,

 

tock ,

 

tock,

 

tock

Es zermürbt dich, es macht dich wütend, es wird dir egal.

Du sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Bett, umgeben von Kälte und Feuchtigkeit, und guckst nur noch sporadisch hoch, um dir die Trümmer deines Zimmer anzusehen. Die Risse in den Wänden, die mittlerweile zu Löchern geworden sind, fangen an so zu wirken als wären sie schon immer da gewesen. Doch dann bemerkst du sie. Die Augen.

Sie starren durch die entstandenen Löcher zu dir herein. Manche weit aufgerissen, andere lächelnd. Kein liebevolles Lächeln, ein Lächeln der Gewissheit. Die Gewissheit, dass sie bald zu dir rein können. Die Gewissheit, dass sie bald da sind. Sie alle. Dass sie um dein Bett herum stehen und dann....

Ein letztes lautes Ächzen und das, was von den einstmals soliden Wänden übrig ist, gibt nach. Eine Staubwolke bahnt sich ihren Weg durch dein Zimmer und du musst die Augen schließen. Du hörst schleifende Schritte, die sich über das Geröll schleppen und du hast Gewissheit.

Sie sind da .

 

~Marco K.~

 

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